Entscheidungen. Mein Leben in der Politik by Gerhard Schröder

Entscheidungen. Mein Leben in der Politik by Gerhard Schröder

Autor:Gerhard Schröder [Schröder, Gerhard]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783455850741
Herausgeber: Hoffmann und Campe Verlag
veröffentlicht: 2014-09-28T04:00:00+00:00


Die Geschichte dieser ersten, die kommenden dreißig Jahre in den Blick nehmenden Rentenreform ist es wert, von Historikern beschrieben zu werden. Sie ist – um es vorwegzunehmen – für mich der Beginn einer notwendigen und noch immer ausstehenden Auseinandersetzung darüber, wo der Konkurrenzkampf zwischen den Parteien enden und Verantwortungsethik stehen muss.

Erst nach der Regierungsübernahme hatten wir in der Koalition tatsächlich die tiefe Finanzkrise der Rentenversicherung in ihrer ganzen dramatischen Dimension erkannt. Um dennoch die angestrebte Verringerung des Rentenversicherungsbeitrages von 20,3 auf 19 Prozent zu erreichen, hatten wir die Ökosteuer beschlossen, deren Erträge in die Senkung der Lohnnebenkosten einfließen sollten. Aus der Mehrwertsteuer kam zusätzlich ein Prozentpunkt dazu. Die Reduzierung des Rentenversicherungsbeitrages wäre höher ausgefallen, hätte ihn nicht die Kohl-Regierung für das Jahr 1998 zu niedrig angesetzt, weshalb in den Rentenkassen die vom Gesetzgeber geforderte Schwankungsreserve von einem Monat in Höhe von 8,4 Milliarden Mark fehlte. Auch dieses von der Vorgängerregierung hinterlassene Defizit musste zuerst über Steuermittel ausgeglichen werden.

Walter Riester hatte als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung einen wenig beneidenswerten Job, als er 1999 begann, die Illusion auszuräumen, die Rente sei sicher. Das stimmte unter anderem schon deshalb nicht, weil etwa fünf Millionen Arbeitnehmer mit sozialversicherungsfreien Jobs nicht an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligt waren. Erst als wir diese sogenannten 630-Mark-Jobs versicherungspflichtig machten, sie dafür aber steuerfrei stellten, konnten wir die Beitragsbasis einigermaßen stabilisieren. Insgesamt war klar, dass so ziemlich alles auf den Prüfstand gehörte, was die bisherige Rentenformel ausmachte. Hellste Aufregung herrschte, als dies öffentlich wurde. Als sich dann herausstellte, dass die Anpassung der Rente an die Entwicklung der Nettolöhne künftig kaum zu realisieren sein würde, häuften sich die Orkanwarnungen.

Die Union startete mit einer Kampagne unter der Überschrift »Rentenbetrug« durch und hatte dabei auch noch die Gewerkschaften an ihrer Seite. Dabei hätte jeder, der rechnen konnte, leicht herausfinden können, dass sich das Niveau der umlagefinanzierten Altersrente nicht halten ließ und deshalb eine zweite, auf Eigenverantwortung basierende Säule notwendig sein würde. Dabei drehte sich die Auseinandersetzung vor allem darum, ob diese zweite Säule der Eigenvorsorge freiwillig oder obligatorisch sein sollte – eine Debatte, die auch innerhalb der Koalition stattfand, denn diese Frage war bei den Grünen mindestens so umstritten wie in der SPD. Die als »Zwangsrente« diffamierte obligatorische Vorsorge hatte keine Chance. Walter Riester, der in der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün diesen wohl schwierigsten Reformauftrag bearbeitete, stand in kontinuierlichem Kontakt mit mir, und ich kann auch im Rückblick sagen, dass ich nicht ein einziges Mal an einen Wechsel an der Spitze seines Ministeriums gedacht habe – obwohl durch das Streuen solcher Gerüchte Zwietracht zwischen uns gesät werden sollte. Wir konnten allerdings nicht vorhersehen, dass uns die Auseinandersetzung um die Rentenreform bis in das Jahr 2002 begleiten würde.

Vor seinem Eintritt in das Kabinett kannte ich Walter Riester nicht näher. Er hatte sich als moderner Tarifpolitiker einen Namen gemacht. Was ich von ihm und über ihn gelesen hatte, bestärkte mich in meinem Entschluss, ihn in meine Mannschaft zu berufen. Ich sollte nicht enttäuscht werden. Riester agierte kenntnisreich und mit der Autorität eines Menschen,



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